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Interview mit Urte von Berg, Autorin von "Dorothy von Moltke: Eine Biografie"

„Was wir lernen können? Zunächst sind Dorothys Liebe zur eigenen Umgebung und ihre Toleranz vorbildlich. Humor ist eine besondere Gabe; doch einen Blick für das Wesentliche und materielle Unabhängigkeit sollten wir vielleicht anstreben?“

- Urte von Berg

Weitere Informationen über die Biographie finden Sie im Anschluss an das Interview in einer Rezension sowie auf der Website des Wallstein-Verlages

In Ihren Schriften beschäftigen Sie sich mit engagierten, selbständigen Frauen, die nicht den Konventionen ihrer Zeit entsprachen, u.a. ihrer Vorfahrin, Caroline Friederike von Berg, der engen Vertrauten und Mentorin von Königin Luise von Preußen. Was hat Sie dazu bewogen, über Dorothy von Moltke zu schreiben?

Auf der Kreisau-Reise 2017 gab es im Bus von Berlin nach Kreisau einen großen Weidenkorb mit Büchern zu Kreisau und zum Widerstand. Darin fand ich den von Beate Ruhm von Oppen 1999 herausgegebenen Band Dorothy von Moltke: Ein Leben in Deutschland. Briefe aus Kreisau und Berlin 1907-1934. Ich war fasziniert von der Originalität und Klugheit dieser Frau, vermisste jedoch die Kommentierung ihrer Briefe. Der „Panthersprung nach Agadir“ – wer weiß noch davon? Als Politologin reizte es mich, eine Auswahl der Briefe für heutige Leser in den zeitgeschichtlichen Hintergrund zu stellen.

Von Freya ist der Satz überliefert: „Ich habe meine Kinder nicht erzogen, ich habe Sie wachsen lassen.“ Sie selbst schreiben, dass Dorothy ihren Kindern mit „liebevoller Distanz“ begegnet ist, um deren individueller Persönlichkeit Raum zu geben. Wie wichtig war diese Art der Erziehung in der Familie Moltke?

Fast möchte ich annehmen, dass Freya von ihrer Schwiegermutter Dorothy gelernt hat. Die beiden Frauen verstanden sich gut. Toleranz war in Dorothys Familie großgeschrieben. Das ging so weit, dass alle Kinder sich konfirmieren ließen, während die Eltern Christian Science anhingen.

Helmuth James genoss bei Dorothy eine liberale Erziehung. Aus vielen ihrer Briefe spricht ein weltoffener und humanistischer Geist. Wie groß war der Einfluss der Mutter, wenn es darum ging den Sohn gegen die Parolen der Nationalsozialisten zu immunisieren?

Helmuth James war sehr intelligent und zur Bildung eines eigenen Urteils und zur Kritikfähigkeit erzogen. Als Journalist machte er sich bald selbst ein Bild über den Nationalsozialismus. Die Kraft zum Widerstand allerdings hatte er auch seiner Mutter und seinem Großvater Sir James Rose Innes zu verdanken: beide erklärten sich als unfähig, mit ihrem Gewissen Kompromisse zu schließen; sie fühlten sich ethischen Maßstäben verpflichtet.

Während des ersten Weltkriegs bleibt Kreisau von Kampfhandlungen verschont, muss aber mit einer angespannten Versorgungslage leben. Auch ist Dorothy einem politischen Konflikt ausgesetzt, weil ihre Freunde und Verwandten im gegnerischen Lager stehen.  Wie erlebt Dorothy diese Zeit?

Es ist nicht verwunderlich, dass Dorothy unter dieser Situation leidet. Ihre Briefe an die Eltern muss sie nun auf deutsch verfassen, so gut es geht. Ihr starker Charakter zeigt sich darin, dass sie konsequent zu Deutschland hält, denn sie hat sich für ihren Mann, für Kreisau und damit für dieses Land entschieden.

Auch wenn sie aus einer ähnlichen sozialen Schicht kommt, so ist sie als gebürtige Südafrikanerin britischer Abstammung zunächst doch eine Außenseiterin in Kreisau. Wie wichtig war der stetige Kontakt zu den Eltern, um sich in den „deutschen Verhältnissen“ sicher zu fühlen?

Dorothy fühlte sich bei aller Wertschätzung durch die Menschen in Kreisau als Außenseiterin, doch der Briefwechsel mit den Eltern gab ihr Halt. Ihre Briefe waren meist an den Vater gerichtet, mit dem sie die jeweilige Situation in Kreisau und die politischen Verhältnisse erörterte. Persönliche Ängste und Enttäuschungen machte Dorothy mit sich selber ab; sie klagte nie. Vielmehr war es ihr Anliegen, die Eltern über ihr Leben in Deutschland zu beruhigen. Leider sind die Antwortbriefe der Eltern nicht erhalten.

Nach einigen Jahren in Kreisau sagt Dorothy: „Ich bin überzeugte Sozialdemokratin geworden!“. Mit der Einführung des Frauenwahlrechts 1919 erfüllt sich für sie ein ganz persönliches politisches Ziel. Wie wird das in ihrer mehrheitlich konservativen Umgebung aufgenommen?

Dorothy verfügte über köstlichen Humor, so schrieb sie einmal, die Engländer fürchteten als „Schreckgespenst“ die deutsche Invasion, die Junker dagegen eine Revolution und die Sozialdemokratie. So ist ihr zweifellos ernst zu nehmendes Bekenntnis zur Sozialdemokratie auch als amüsierter Ausdruck des Trotzes zu verstehen. Mit ihrer Mutter war Dorothy schon in Südafrika Anhängerin des Frauenwahlrechts, doch nun macht sie sich lustig über die Art, wie es auf dem Land in Schlesien eingeführt wird. Ihre konservative Umgebung wird über Dorothy als Frauenrechtlerin schockiert gewesen sein, doch darüber lässt sie nichts verlauten.

Die großen gesellschaftlichen Fragen der Weimarer Zeit spiegeln sich auch in Dorothys Beschreibungen über das Leben in Kreisau in dieser Zeit. Wie waren diese materiell mitunter sehr schwierigen Jahre für Dorothy und ihre Familie?

Es waren in der Tat sehr schwierige Zeiten, oft stand der Hunger vor der Tür. Doch Dorothy war in materiellen Fragen unabhängig und souverän; in diesem Geist erzog sie ihre Kinder. Als das Leben im Schloss nicht mehr zu bezahlen war, zogen sie Anfang 1928 in das kleine Berghaus und fühlten sich dort wohl. Ihr Mann arbeitete in Berlin für die Christian Science.

In ihren politischen Analysen über Deutschland schwingt oft eine gewisse Distanz zur neuen Heimat mit. Sieht sich Dorothy nach all den Jahren in Kreisau als Deutsche oder als Südafrikanerin?

Dorothy informierte sich mit Hilfe englischer und deutscher Zeitungen – es ist erstaunlich, wie gut sie Bescheid wusste, trotz ihres Lebens als Gutsfrau mit allen Verpflichtungen, trotz ihrer fünf Kinder. Sie beschreibt ihr Leben klug und souverän, oft mit Humor, und ist Deutschland gegenüber loyal. Um diese Position durchzuhalten, waren Ihre Briefe an die Eltern unverzichtbar. Ihrem eigenen Zeugnis nach blieb Dorothy im Herzen Südafrikanerin.

Vordergründig sind Dorothys liberale Weltanschauung und ihr Einsatz für die Christian Science nicht miteinander vereinbar. Welche Rolle spielt diese Bewegung in ihrem Leben?

Indem sie die Andersartigkeit ihres Mannes akzeptierte, der wegen seiner besonderen Jugendgeschichte kein typischer Junker war, folgte sie auch seinem Bekenntnis zur Christian Science. Sie begleitete ihn zu Schulungskursen nach Hannover und 1911 nach Boston, wo sie ihm half, die Schrift von Mary Baker Eddy Science and Health ins Deutsche zu übersetzen. Beide wurden 1927 Mitglieder der Mutterkirche. Konsequent ließ Dorothy keinen Arzt an sich heran; so ist auch nicht sicher, ob sie 1935 an einem Gehirntumor starb, wie die Familie vermutet. Alle fünf Kinder waren Protestanten.

Welche Elemente von Dorothys Biographie finden Sie persönlich besonders bemerkenswert oder inspirierend? Was können wir aus ihrem Leben für die heutige Zeit lernen?

Mich hat gereizt, die deutsche Geschichte von 1905-1935 in der Wahrnehmung einer gebildeten, britisch erzogenen, klugen Frau gespiegelt zu sehen. Dorothys besonderer Blickwinkel hat mich diese Zeit neu sehen gelehrt.

Wichtiger wurde im Laufe der Arbeit jedoch das Porträt einer liebenswerten Frau von ungewöhnlicher Charakterstärke. Ihre Liebe zu ihrem Ältesten, zu Helmuth James, stand im Mittelpunkt meines Interesses, denn von seinem Ende her gesehen liegt es nahe, nach dem Einfluss der Mutter zu fragen. Im Brief an seine kleinen Söhne aus dem Gefängnis beschreibt er, wie die Mutter eine Atmosphäre von Wärme und Verlässlichkeit schuf, die ihm, seinen Geschwistern und dem Gut ein Gefühl der Sicherheit und Lebensfreude gab. Hinzu kamen als Leitlinien für sein Handeln Dorothys moralische Maßstäbe, die jedem Opportunismus entgegenstanden.   

Was wir lernen können? Zunächst sind Dorothys Liebe zur eigenen Umgebung und ihre Toleranz vorbildlich. Humor ist eine besondere Gabe; doch einen Blick für das Wesentliche und materielle Unabhängigkeit sollten wir vielleicht anstreben?

Das Interview wurde geführt am 9. November 2020. Die Fragen stellte Lars Krägeling, Junger Stifter der FvMS.

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Rezension zu Urte von Berg: Dorothy von Moltke. Eine Biographie

Von Lars Krägeling, Junger Stifter der FvMS

Erschienen im Wallstein Verlag, Göttingen 2020, 248 S., ISBN: 978-3-8353-3729-9

In welchem Umfeld ist Helmuth James von Moltke, eine der führenden Persönlichkeiten des deutschen Widerstands gegen Hitler, aufgewachsen? Woher kamen Moltkes Ansichten, die in vielerlei Hinsicht durchaus untypisch waren für einen „preußischen Junker“? Bei der Beantwortung dieser Fragen verweist Urte von Berg in ihrer neuen Biographie in erster Linie auf den liberalen angelsächsischen Hintergrund und die weltoffenen Überzeugungen der Mutter Dorothy, die in ihren „Briefen aus Kreisau und Berlin“ den äußeren und inneren Weg ihres ältesten Sohnes anschaulich nachzeichnet. Erwähnt sein soll an dieser Stelle auch die Herausgeberin und Übersetzerin Beate Ruhm von Oppen, die mit ihrer erstmals 1999 bei C. H. Beck erschienen Auswahl der „Briefe aus Kreisau und Berlin 1907-1934“ eine wichtige Grundlage für unser Bild von Dorothy von Moltke gelegt hat.

Die damals 18 Jahre alte Dorothy Rose Innes, Tochter des späteren Chief Justice der Südafrikanischen Union, Sir James Rose Innes, unternimmt 1902 mit ihrer Mutter eine Bildungsreise durch Europa und kommt so als zahlender Gast nach Kreisau. Sie ist Einzelkind und schreibt nach ihrer Hochzeit drei Jahre später den Eltern regelmäßig aus der neuen schlesischen Heimat und aus der Reichshauptstadt.

Zentrales Thema der Briefe ist ihr ältester Sohn Helmuth James, oftmals liebevoll nur „the boy“ genannt, der später zum Kopf des Kreisauer Kreises im Kampf gegen Hitler und den Nationalsozialismus wird. Neben der Familiengeschichte reflektieren die Briefe aber auch drei zentrale Epochen deutscher Geschichte. Mit offenen Augen und klarem Kopf beschreibt Dorothy die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und in der Frühzeit des Nationalsozialismus. In den ersten Jahren auf Kreisau ist das Geld so knapp, dass Dorothy 1910 anlässlich der Einführung bei Hofe "eine Tiara aus den Steinen in den Orden des Feldmarschalls" trägt: "Nachher können sie entweder wieder eingesetzt oder durch Imitationen ersetzt werden."

Trotz ihrer neuen Heimat bleibt sie "politisch absolut Südafrikanerin", hat gegenüber der deutschen Politik "keinen Enthusiasmus oder auch nur Respekt" und schätzt die Konservativen als Kriegsbefürworter aus innenpolitischen Gründen ein. Dies bewahrt sie jedoch nicht davor, im September 1914 durch die selbsterfahrene innere Geschlossenheit in Euphorie zu verfallen: "Nie bin ich so begeistert für Deutschland wie jetzt. Es bedeutet die Wiedergeburt Deutschlands." Der in den ersten Kriegstagen gerade siebenjährige Helmuth James spürt bereits den politischen Konflikt, dem seine Mutter ausgesetzt ist und verkündet: "Meine Mami ist Afrikanerin!"

Die Jahre nach dem Krieg sind schwierig. Die finanziellen Belastungen wachsen trotz Paketen und Geldüberweisungen aus Pretoria derart, dass die Familie Ende 1927 aus Schloss Kreisau in das günstiger zu unterhaltende Berghaus umzieht. Als 1929 der Gutsinspektor plötzlich stirbt, die Wirtschaftskrise auf ihren Höhepunkt zusteuert und das Ausmaß der Verschuldung deutlich wird, gibt der Vater die Generalvollmacht für die Verwaltung des Besitzes Kreisau an seinen Sohn. Er kann die Güter durch Bildung einer Betriebsgesellschaft zwar retten, die wirtschaftliche Situation bessert sich für die Familie dadurch aber noch nicht. In materieller Notsituation müssen alle Memorabilien des Feldmarschalls an das Moltke-Museum in Berlin, Moltke-Papiere an das Reichsarchiv gegeben, schließlich ein Bismarck-Bild von Lenbach und das Diadem, das Dorothy 21 Jahre zuvor bei Hofe getragen hatte, veräußert werden.

Hoffnungen setzt Dorothy während dieser schwierigen Jahre darauf, dass Helmuth James und seine Frau Freya vielleicht Arbeit in Südafrika finden können. Sie ist entsetzt über die Politik der Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg, mehr noch über die zunehmende Gefährdung der Republik durch Nationalisten und Nationalsozialisten. Als diese schließlich 1933 an die Macht kommen, grenzt die Sorge an Verzweiflung. Im Juli 1934 bekennt sie: "Tatsache ist, dass ich seit März 1933 den Staat, jeden Staat unerträglich finde und das Wohl des Einzelnen für unendlich wichtiger halte als das Wohl des Staates."

Am 11. Juni 1935 stirbt Dorothy von Moltke mit 51 Jahren unerwartet, wahrscheinlich an einem Gehirntumor, sodass es ihr erspart bleibt, den Tod ihres Sohnes am Galgen von Plötzensee erleben zu müssen.

Urte von Berg legt nach dem Briefband von Beate Ruhm von Oppen die erste „echte“ Biographie dieser klugen und tapferen Frau vor, die mit Humor und Güte ihre fünf Kinder aufzieht und ihren Pflichten als Gutsherrin nachkommt. Die vielen Briefauszüge sind eingebettet in den zeitgeschichtlichen Hintergrund, sodass sich heutigen Lesern die Zusammenhänge gut erschließen.