Kreisau-Reise 2015
„Meine Erinnerungen“ - eine Teilnehmerin berichtet von der Kreisau-Reise
Ob man zum ersten Mal nach Kreisau fährt oder Jahr für Jahr an diesen besonderen Ort zurückkehrt - Kreisau fasziniert immer wieder mit neuen Eindrücken. Unsere langjährige Reiseteilnehmerin Gisela von Samson-Himmelstjerna hat uns freundlicherweise ihre ganz persönlichen Erinnerungen an die Kreisau-Reise 2015 zur Verfügung gestellt und berichtet von ihren Erfahrungen:
Kreisau-Reise vom 14. bis 17. Mai 2015
Meine Erinnerungen
Freitag, 15. Mai 2015
auf dem Weg nach Kreisau
Die Sonne schien wie immer auf dieser Reise, als wir mittags in Breslau nach Kreisau abfuhren, bereichert um Kenntnisse über diese Stadt, die uns tags zuvor Renata [Bardzik-Miłosz] wieder kundig und ansprechend vermittelt hatte, auch beeindruckt von literarischen Spuren in Breslau, die einige von uns in einer entsprechenden Führung wahrnehmen konnten. Das Ossolinum und seine ukrainischen Spuren hatten wir kennen gelernt und den ersten Vortrag zu den polnisch-ukrainischen Beziehungen gehört.
In Erinnerung an die letzte Kreisau-Reise im September 2014 mit der abenteuerlichen, gruppendynamisch so bewegenden Bachüberquerung war wieder eine Wanderung für Wanderfreudige von Schweidnitz nach Kreisau geplant, doch es fehlte der Führer, der die Gruppe begleiten sollte, so dass von dieser Wanderung nur der Blick auf die Karte übrig blieb, was sich aber letztlich als glückliche Fügung erwies.
Der zeitliche Gewinn ermöglichte es uns, am Spätnachmittag in Kreisau durch die blühenden Rapsfelder zu spazieren und vom Berg aus auf das Dorf zu schauen. Auf dem Weg zum Schloss kamen wir am Berghaus auf dem „konspirativen“ Weg vorbei; so jedenfalls wurde dieser Weg vom Bahnhof zum Berghaus auf einer Führung beschrieben, weil einige Mitglieder des Kreisauer Kreises diesen Weg zu den Treffen im Berghaus nahmen, um im Dorf nicht gesehen zu werden.
Abend im Berghaus
Am Abend teilte sich die Gruppe; einerseits für die Filmvorführung „Ida“, andererseits zu einem Abend im Berghaus, an dem Caspar von Moltke wesentliche Teile des langen Briefes seines Vaters an seine beiden Söhne vorlas. Helmuth James v. M. schrieb ihnen im Gefängnis in der Prinz-Albrecht- Straße kurz nach seiner Verhaftung, also lange vor dem zum 20. Juli 1944. (vgl. Günter Brakelmann, Helmuth James von Moltke, 1907–1945, Eine Biographie, Becksche Reihe 2009, S. 365)
Auf früheren Reisen pflegte Herr v. Moltke diesen Brief im Bus vorzulesen. Nun im Berghaus klang er noch einmal anders, vergleichbar etwa dem Unterschied zwischen einem in der Gegenwart gehörten Konzert, bei dem der Raum und seine Akustik mitspielen, und einer Schallplattenaufnahme. Es ist kein Abschiedsbrief, sondern ein Erinnerungsbrief „Wie alles war, als ich noch klein war“, die Erinnerung an eine glückliche Kindheit in Kreisau, an die Menschen dort, an erlebte und heil überstandene Abenteuer mit Spielkameraden. An keiner Stelle ist etwas von der Atmosphäre eines Gefängnisses in diesem so beschaulich geschriebenen Brief zu spüren.
Beeindruckt haben mich der Bericht über die Weihnachtsfeiern, so dass ich dachte: „Weihnachten in Kreisau, das wäre auch mal etwas! Oder: eine Winterreise.“
Im Gespräch nach der Lesung kam die Frage an Caspar v. Moltke: „Und wie haben Sie Kreisau als Kind im Krieg erlebt?“ Antwort: „Eigentlich genau so.“ Was er vom Krieg mitbekam, empfand er, auf dem Gut mit allen interessanten Ereignissen lebend, nicht als Bedrohung. Über die letzten Tage der Familie in Kreisau 1945 hat Freya v.M. in ihrem Erinnerungsbuch anschaulich erzählt, aber nicht die gute Geschichte, die wir nun hörten: Im Schloss waren die Russen eingezogen, die Familie lebte mit Romai Reichwein und ihren Kin¬dern im Berghaus. Aus dem Schloss hörte man das Bellen eines Hundes, der Moltkes gehörte. Freya v. M. ging zum Schloss und sprach den Kommandanten auf den Hund an. Der war abwehrend und ab¬wei-send. Da sagte sie: „Wir möchten Ihnen den Hund schenken.“ Die Stimmung des Kommandanten schlug augenblicklich um, er fragte nach der Herkunft des Hundes, nach dessen Rasse und Alter. In der nunmehr guten Stimmung bat Freya v. M. um Schutz für die Bewohner des Berghauses, was der Kommandant zusagte und auch entsprechend handelte, besonders als die Polen Kreisau besetzten und auch das Berghaus einnehmen wollten.
Dieser Abend im Berghaus im Mai 2015 war ein atmosphärisch besonders gut gelungener Abend, ohne drangvolle Enge im überschaubaren Kreis.
So wichtig Führungen im Berghaus sind als Information über den Kreisauer Kreis, über dessen Mitglieder, die in der Glasvitrine zu sehen sind, über die Symbolik des Raumes, des ehemaligen Moltkeschen Esszimmers, in dem die drei Treffen stattfanden, - ein Abend im Berg¬haus ist eine Veranstaltung auf der Erlebnisebene, die über die Information hinausgeht. Beide Veranstaltungen ergänzen einander.
Ich empfinde die Kreisau- Reisen als eine Mischung von Studienreise und Familientreffen, wobei Familie in zweierlei Hinsicht zu verstehen ist: einmal die Gemeinschaft der Reisenden, die sich dem Erbe Kreisaus verbunden fühlt als „Familie“, sodann die konkrete Familie Moltke, in deren Geschichte man hinein genommen wird (nicht in die Familie), repräsentiert durch Caspar v. Moltke, dem für seine Begleitung und Belebung der Reisen sehr herzlich zu danken ist, vor allem für die Abende im Berghaus. Kreisau ist ein Geschichtsort und als solcher ein Ort der Identifikation mit Menschen, die während der nationalsozialistischen Diktatur einen demokratischen Staat planten, auch um den Preis ihres Lebens. Identifikation setzt nicht nur Wissen voraus, sondern ist ein Vorgang der inneren Wahrnehmung, der bei Abenden im Berghaus besonders gelingen kann.
2012, siebzig Jahre nach dem ersten Kreisauer Treffen, wieder zu Pfingsten, gestalteten die Jungen Stifter Moritz Decker und Lars Krägeling im Gespräch mit Herrn v. Moltke den Abend im Berghaus. Es ging um das Verhältnis von Peter Yorck von Wartenburg zu Helmuth James von Moltke und dementsprechend um die Einschätzung des Attentats vom 20. Juli 1944.
Auf dem abendlichen Rückweg vom Berghaus zum Gutshof hatte ich nach den Gesprächen dort das Gefühl, dem Kreis von damals ganz nahe zu sein, und als am Pfingstsonntagmorgen die Tageslosung aus Sacharja 4,6 hieß: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft ,sondern durch meinen Geist geschehen…“ wirkte dies auf mich wie eine Fortsetzung der Gespräche auf dem Berghaus 1942 und 2012.
Samstag, 16.Mai 2015
Führungen
Am Vormittag dieses Tages fanden die Führungen durch Kreisau mit unterschiedlichen Schwerpunkten statt. Besondere Anziehungskraft hatte die Führung in der neuen Dauerausstellung „Mut und Versöhnung“, die im November 2014 auf dem Gelände neben dem Gärtnerhaus eröffnet wurde. In unseren Tageszeitungen wurde aus diesem Anlass Bundeskanzlerin Merkel neben der polnischen Ministerpräsidentin Ewa Kopacz vor dem großen Bild des Friedensgrußes von Helmut Kohl und Tadeusz Mazowiecki während der „Versöhnungsmesse“ am 12. November 1989 gezeigt. Beide Politikerinnen waren zur Eröffnung der Ausstellung nach Kreisau gekommen. Die Ausstellung zeigt in labyrinthisch angelegten Gängen, die in ein offenes Forum führen, wie das Denken des Kreisauer Kreises zur Zukunft Europas führt, konkret zur deutsch-polnischen Versöhnung.
Im September 2014 hatte uns der polnische Historiker Waldemar Czachur von der Universität Warschau die Konzeption der Ausstellung erklärt und in einem beeindruckenden Vortrag die einzelnen Schritte der deutsch-polnischen Annäherung dargelegt.
Podiumsdiskussion
Die beiden Vorträge dieses Vormittags, gehalten von Dr. Irina Scherbakowa aus Moskau und Dr. Jurko Prochasko aus Lemberg widmeten sich der Thematik der Tagung: Russland und Ukraine - Geschichte und Gegenwart. Im Jahresrundbrief 2014 der Kreisau- Initiative, der im Internet zugänglich ist, konnte man bereits ein kurzes Gespräch mit dem Germanisten Prochasko lesen. Dort ist auch der Aufsatz von Irina Scherbakowa zu finden: „MEMORIAL: 25 Jahre Einsatz für Menschenrechte“. Darin berichtet Scherbakowa von den Schwierigkeiten, auf die die wohl bekannteste russische Nichtregierungsorganisation bei ihrer Arbeit im Sinne der Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen und Auseinandersetzung mit aktuellen Menschenrechtsverletzungen in Russland trifft. Was sie in Kreisau sagte, wirkte nahezu verzweifelt. Sie bezeichnete die Situation in ihrem Land aufgrund der Politik Putins als „Tragödie“. Hass gegen den Westen und auf alle, die im Lande selbst seine Politik kritisieren, werde geschürt, die Mentalität einer „belagerten Festung“ befördert und eine Militarisierung des Lebens vorangetrieben. All das diene Putins Machterhalt, auch der Konflikt mit Ukraine habe hier seine Wurzel. Am Schluss ihrer Ausführungen äußerte sie die verzagte Hoffnung auf die „Kraft der Schwachen“.
Eine Perspektive zur Lösung der Probleme zeigte sie nicht auf. Aber gibt es sie? Und was heißt das alles für uns, die wir Frieden in Freiheit wünschen, froh sind über das Erreichte im Verhältnis zu unseren polnischen Nachbarn und gerne eine Entspannung im Verhältnis zu Russland hätten? Fragen sind offen geblieben, und sie lassen sich derzeit wohl kaum in absehbarer Zeit beantworten.
Makowice
In der Mittagssonne wanderten wir nach Makowice zu Kaffee und Kuchen im dortigen Schloss. Wieder wie voriges Jahr der Blick auf die Kirche, dessen Inneres uns der Pfarrer als seine Kirche erklärte; wieder der Blick auf die „Ausgleichshäuser“, deren Bedeutung wir kennen lernten.
Um eine Hochzeitsgesellschaft im Schloss nicht zu stören, zogen wir zum fröhlichen Kaffee-trinken auf die angrenzende Wiese, wo es sich an Holztischen und Bänken plaudern ließ und nette Geschichten zur Sprache kamen.
Bei der anschließenden BusStadtführung in Schweidnitz beeindruckte mich am meisten, dass die aus Ostpolen Vertriebenen, die man in deutsche Häuser eingewiesen hatte, lange auf „gepackten Koffern“ saßen, weil sie sich nicht sicher waren, ob die Grenze zu Deutschland endgültig sein würde.
Festliches Abendessen
Der Tag klang aus mit dem traditionellen festlichen Abendessen, mit der Rede von Herrn von Moltke und einem Dank eines Teilnehmers an die Hauswirtschaft. Herr von Hülsen stellte das Projekt „Krzyżowa Music“ vor, das in diesem Sommer in Kreisau starten wird. Schön wäre es, wenn ein Abglanz dieser Musik einmal als Tafelmusik beim festlichen Abend¬essen erklingen könnte!
Sonntag, 17. Mai 2015
Gedanken aus der Andacht in Kapelle am 17.Mai 2015.
Der Andacht lag die Losung des Tages zugrunde:
Ex. 33, 13: Mose sprach zu dem Herrn: Habe ich Gnade vor deinen Augen gefunden, so lass mich deinen Weg wissen, damit ich dich erkenne. (Luther-Übersetzung)
Zum Schluss der Auslegung des Textes sagte ich:
"Wir sind in Kreisau. Vor mehr als 70 Jahren haben hier Menschen gehofft, geplant und gebetet um den richtigen Weg für Deutschland und Europa nach einem verlorenen Krieg. Zu ihren Lebzeiten konnten viele von ihnen nicht die Bestätigung ihres Weges erfahren, aber sie haben ihre Gedanken als Erbe für uns hinterlassen. Deswegen sind wir hier, um nach der Bedeutung dieses Erbes in unseren Tagen zu fragen."
In der neuen Dauerausstellung lesen wir, dass Helmuth James von Moltke im Jahre 1942 für Europa nach dem Krieg die Frage von Grenzen und Soldaten für weniger wichtig hielt als die entscheidende Frage.“ Wie kann das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger wieder hergestellt werden?“
Vorgestern Abend bei der Lesung im Berghaus hörten wir, welche Bedeutung die Schwester Ida Hübner für das Leben der Familie Moltke hatte. In seinem Abschiedsbrief an sie vor sei¬nem Tod schrieb Helmuth James von Moltke vom Samen, der aufgehen wird: “Ich bin wie ein stiller Sämann übers Feld gegangen, und das eben will man nicht. Der Samen aber, den ich gesät habe, wird nicht umkommen, sondern wird eines Tages seine Frucht bringen, ….. (Briefe S. 550)“
Diese Gedanken ergänzte Axel Smend:
Im 5. Buch Moses, Kapitel 14, Vers 22 steht:
„Du sollst freulich vervielfachen allen Ertrag deiner Saat, die aus dem Felde erwächst, Jahr für Jahr!"
Hier in Kreisau ist doch Saat für drei Arten von Früchten gesät worden:
Zum einen die Frucht des Kreisauer Kreises mit seiner Botschaft und seinem Vermächtnis, Erinnerungsverantwortung aber auch Zukunftsverantwortung zu leben; dieses Vermächtnis lässt diese Frucht weiter wachsen.
Zum Zweiten die Früchte des Feldes, der Natur und der Landwirtschaft, sensibel geprägt durch die Nachhaltigkeit entsprechender Investitionen
und zum Dritten die Früchte einer internationalen Begegnungs- und Gedenkstätte vor dem Hintergrund der polnisch-deutschen Freundschaft.
Kapellenberg
Vor der Abreise von Kreisau gingen wir auf den Kapellenberg, zunächst auf den ehemaligen Gemeindefriedhof, dann zur Begräbnisstätte der Familie Moltke und zum Schluss zur Kapelle auf dem Berg, die der Generalfeldmarschall erbauen ließ.
Ein Bericht von Gisela von Samson-Himmelstjerna
Wir danken Frau von Samson-Himmelstjerna sehr herzlich für diese Eindrücke von der Reise - und laden alle, die nun neugierig geworden sind und sich ein eigenes Bild von Kreisau machen wollen, ein, uns im Jahr 2016 nach Kreisau zu begleiten!